Wanderer wider Willen
Die erste tropische Orchideenblüte, die in Europa blühte, eine Brassavola nodosa aus Südamerika, bewunderte man 1615 in Holland. Die bedeutendste Rolle bei der Kultur und Einfuhr tropischer Orchideen spielte jedoch schon bald das Königreich England. Seit 1600 gründeten die neuen entstandenen Kolonialmächte große Handelsorganisationen, z.B. die "Ostindien - Kompanie", die sich die wirtschaftlichen Ausbeutung der neu "entdeckten" Länder Südamerikas, Afrikas und Asiens zur Aufgabe gemacht hatten. Im Zuge dieser Handelsaktivitäten kamen zahlreiche Orchideen in die botanischen Gärten und später auch in die privaten Gärtnereien Englands. Besonders der botanische Garten von London kultivierte bald zahlreiche Orchideenarten und erforschte ihre Lebensweise. Die Wissenschaftler waren oft mehr beeindruckt von der epiphytischen Lebensweise der Orchideen, als von den Blüten, denn solche botanischen Kuriositäten kannte man aus der einheimischen Pflanzenwelt kaum. Private Pflanzenliebhaber schätzten besonders die Blüten der Orchideen. Mit den seltenen und schwer zu erhaltenden Orchideen konnten sie auf beeindruckende Weise ihre prestigeträchtigen, teils recht umfangreichen und wertvollen Sammlungen bereichern. Dafür waren sie bereit, Unsummen auf den Tisch der Auktionshäuser zu legen, die zur Pionierzeit des Orchideenhandels mit dem Vertrieb der Pflanzen Geld verdienten. Noch 1903 soll ein englischer Orchideenliebhaber 20.000 Goldmark für eine bestimmte Odontoglossum - Art hingeblättert haben. Diejenigen, die es sich leisten konnten oder die mit Orchideen ihr Geld verdienen wollten, schickten eigene Sammler auf die abenteuerlichen Sammelreisen in die ganze Welt. Vor allem in der frühen Sammelzeit, als die Transportmethoden nicht ausgereift und die Segelschiffe Monate für die Heimreise benötigten, wurden durch die Sammler gigantische Mengen von Orchideen "geerntet", die jedoch nur zu einem geringen Prozentsatz ihren Bestimmungsort lebend erreichten.
Berühmte Orchideengärtnereien entstanden in dieser Zeit, die recht schnell ihr Sortiment aber auch ihre Kenntnisse über Orchideen beträchtlich erweiterten. Es war nur konsequent, daß man nun auch die wertvollen Pflanzen, die man besaß, reproduzieren wollte oder auch durch neue Kreuzungen auf sich aufmerksam machen wollte. Veitch und Sander in England, Makoy in Belgien, Nicolai und Hennis in Deutschland sind mit die bekanntesten Orchideengärtnereien des 19. Jahrhunderts, die z.T. noch heute bestehen. Dem Obergärtner der Firma Veitch, John Dominy, gelang 1856 die erste künstlich herbeigeführte Orchideenkreuzung - mit Unterstützung eines Chirurgen. Insgesamt schuf er 25 Kreuzungen. Sein Nachfolger John Seden kam schon auf über 500 Hybriden. Kreuzen und Züchten von Orchideen war auch für Fachleute nicht einfach. Neben der Auswahl geeigneter Mutterpflanzen war besonders die Aufzucht der Sämlinge überaus schwierig. Wir werden später sehen warum.
Orchideennamen erzählen
Die Namen zahlreicher Orchideen können uns heute noch einiges aus der Pionierzeit der Orchideenkultur berichten. Die Art Masdevallia veitchiana z.B. wurde von einem Sammler der Firma Veitch entdeckt und in diesem Betrieb zum erstem Mal erfolgreich kultiviert. Die Gattung Masdevallia selbst wurde nach dem spanischen Arzt und Botaniker Jose Masdevall benannt.
Für den Orchideenzüchter der Gärtnerei F. C. Sander war der Gärtnergeselle Benedict Roezl aus Prag in der ganzen Welt unterwegs. Roezl hatte durch einen Unfall einen Arm verloren. Trotzdem war er ständig auf Reisen und entdeckte über 800 neue Arten und Gattungen. Damit gilt er als einer der erfolgreichsten Orchideensammler aller Zeiten. Eine von ihm entdeckte Miltonia, die der Gärtner Sander dem englischen Orchideenliebhaber Sir Henry Schroeder zukommen ließ, die Miltonia roezlii `Baron Schroeder´, erinnert an Roezl.
Auch die Damen der besseren Gesellschaft betätigten sich recht erfolgreich als Orchideenliebhaberinnen. So gelang es einer gewissen Lady Acland aus Exeter zum ersten Mal, die dann nach ihr benannte Cattleya aclandiae zum Blühen zu bringen.
Zufälle über Zufälle
Eine längere Geschichte rankt sich um die Cattleya. Glück und Zufall bestimmten ihre Geschichte. Um das Jahr 1818 erhielt der englische Orchideengärtner William Cattley eine Pflanzensendung seines Sammlers William Swainson aus Brasilien. Diese Sendung soll zum Schutz des Inhaltes pflanzliches Verpackungsmaterial enthalten haben. Aus Neugier soll Cattley einige dieser unansehnlichen Gewächse in eine Ecke seines Gewächshauses gepflanzt haben. Er staunte nicht schlecht, als einige Monate später die prachtvollen und herrlich duftenden Blüten der Cattleya daraus hervorkamen. So zumindest erzählt man es. William Cattley erkannte schnell, dass er mit dieser Pflanze einen großen Fisch gefangen hatte und er bemühte sich um weitere Pflanzen. Doch der Sammler Swainson hatte die Cattleya zwar entdeckt, doch sorgte er kurioser Weise auch für deren Verschwinden. Irgendwie hatte er „vergessen“, den Standort der Pflanze bekannt zu machen und war inzwischen unauffindbar nach Neuseeland entschwunden. So schickten alle größeren Orchideengärtnereien aus England, Frankreich und Belgien zwischen 1830 und 1880 ihre besten Sammler nach Brasilien, um die Cattleya wiederzufinden. Da sie jedoch alle einer falschen Fährte folgten und die Pflanze in der Nähe von Rio de Janeiro suchten, blieben sie erfolglos. Swainson war zwar auch in Rio gewesen, aber angekommen war er in einer Stadt namens Recife. Das hatte er sogar in einem Reisebericht festgehalten. Es ist naheliegend, dass er also auch an seinem Ankunftsort nach Orchideen gesucht hatte.
Dem Zufall war es dann zu verdanken, dass die Pflanze schließlich wiederentdeckt wurde. Der Direktor des Paris Naturkundemuseums hatte einen Sammler nach Brasilien geschickt, um seltene Insekten zu sammeln. Da der Sammler wusste, dass sein Auftraggeber eine kleine Orchideensammlung als Hobby betrieb, sandte er ihm auch 50 Orchideenpflanzen, die er in Pernambuco gefunden hatte. Der Zufall wollte es, dass 1889 Frederick Sander von der bekannten englischen Orchideengärtnerei Sander den französischen Museumsdirektor Ms. Moreau gerade zu dem Zeitpunkt besuchte, als die Cattleya in Blüte stand. Sofort erkannte Sander die „verschwundene“ Pflanze wieder und erhielt auch nähere Informationen über den Standort, da Mis. Moreau kein kommerzielles Interesse an den Orchideen hegte. Im folgenden wurde die Ruhe, die Pflanzen bisher in der Abgeschiedenheit des Urwaldes in Pernambuco genossen jäh zerstört. Tausende von Pflanzen wurden exportiert und die Cattleya wurde eine der beliebtesten Orchideen ihrer Zeit.
Vermehrung
Heute werden Millionen von Orchideen als Topf- und Schnittblumen in europäischen, besonders holländischen, Gärtnereien vermehrt. Bis man jedoch die geeigneten Methoden herausfand, waren einige Schwierigkeiten zu überwinden.
Zwar gelang es schon bald nach der Einführung der ersten Orchideen nach Europa, die Pflanzen zu kultivieren und eine gewisse Zeit am Leben zu erhalten, doch der Erfolg von Orchideenaussaaten blieb bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eher dem Zufall überlassen. Man wusste bereits um die Bedeutung der Insekten bei der Bestäubung der Blüten und entwickelte entsprechende Verfahren, um die Blüten von Hand zu bestäuben. Die Samenkapseln reiften auch gut heran, doch wie viel Mühe man sich auch mit der Aussaat gab, bedeutende Erfolge erzielte man nicht. An der Menge der Samen konnte es auf jeden Fall nicht liegen. Wie in jüngerer Zeit Astronomen der Sternwarte Greenwich mit Hilfe ihrer technischen Hilfsmittel herausfanden, ist die Menge der in einer Samenkapsel ausgezählten Körner wahrhaft astronomisch. 4 Millionen Körner zählten sie in einer Kapsel. 500.000 solcher Körner wären notwendig, um das Gewicht von 1 Gramm Samen zu ergeben. Es gibt keine Pflanze auf der Welt, die kleinere Samenkörner als die Orchidee hat.
Nicht ohne meine Pilze ...
Aber erst 1899 konnte der französische Forscher Noel Bernard das Geheimnis der erfolgreichen Vermehrung der Orchideen durch Samen - eher zufällig - lüften. Eine zu spät geerntete Samenkapsel war umgeknickt und mit einem dichten Pilzmycel umgeben. Trotzdem gelang die Aussaat hervorragend. Das winzige Samenkorn der Orchidee benötigt nämlich als Ersatz für fehlendes Nährgewebe unbedingt die Verdauungsprodukte bestimmter Pilze und auch die heranwachsenden Jungpflanzen profitieren noch von diesen Stoffen. Allerdings nützte diese Erkenntnis den Orchideengärtnern seiner Zeit noch recht wenig, da die entsprechenden Pilze nicht bekannt waren oder in der Praxis nicht kultiviert werden konnten.
Doch einige Jahre später sorgte der amerikanische Forscher Lewis Knudson für die Revolution in der Orchideenaussaat. Er bereitete eine Art "Aussaat-Pudding" zu, bestehend aus Zucker, Meeresalgen-Gelantine, Nährstoffen und Wasser. Auf diese Nährlösung wurden die Samen im Labor keimfrei in Flaschen aussgesät.
Für den Orchideengärtner und auch für den Amateurzüchter gab es jetzt kein Halten mehr. Hunderte von Kreuzungen entstanden nun jährlich – bis heute über 100.000 Kreuzungen. Nur dem schon erwähnten Gärtner Frederik C. Sander ist es zu verdanken, daß die Übersicht gewahrt blieb. Er registrierte seit 1901 alle neuen Hybriden in der "Sander´s List of Orchid Hybrids", die bis heute durch die Königliche Gartenbaugesellschaft von England fortgeführt wird.
In jüngerer Zeit nutzte man vor allem in Europa die Kenntnisse über die Zellteilung zur Entwicklung einer neuen Vermehrungsmethode, der s.g. Meristemvermehrung. So können Pflanzen vollkommen identisch 1000-fach „vervielfältigt“ werden.
Nach Entdeckung dieser neuen Technik hat sich schnell eine regelrechte Orchideen-Industrie entwickelt. Die Vielfalt der Arten, die einst die Orchideenliebhaber erfreuten, scheint bei der Massenproduktion auf der Strecke zu bleiben. Die große Nachfrage als Schnittblume oder für den schnellen Verkauf in Blumenläden, Kaufhäusern oder Gartencentern hat einer Großproduktion weniger Standardsorten hervorgerufen, die in Vermehrungsfabriken nach Bedarf produziert werden. Es gibt Gärtnereien, die jährlich 15 Mio. Orchideenjungpflanzen heranziehen.